Fortsetzung: hier Teil 2:

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Dänemark

Heute ist der 20. Juli 1991. Ich bin wieder bei Frau Otto, und wir wollen weiterarbeiten.

Wir waren nun Flüchtlinge in einem fremden Land. In der seelischen Verfassung, in der wir waren, haben solche Gedanken jedoch keinen Raum gehabt. Wir hatten diese Vertreibung und die Flucht hinter uns - mit all den Gefahren - und waren zunächst froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Wir wurden in Allesö betreut und waren zufrieden, daß wir nach all den Strapazen ein Dach über dem Kopf hatten. Wir hatten Räume bekommen in einem Flüchtlingslager, das kein typisches Lager war, sondern ein kleines hübsches Bauerndorf. Wir wurden in ein Bauernhaus eingewiesen, haben uns da einrichten können und hatten zunächst nicht das Gefühl, im fremden Land zu sein.

Wir wurden von der Organisation Todt betreut. Das war eine Organisation des dritten Reiches die Baumaßnahmen als Aufgabe hatte und mit dem Anlegen des Flugplatzes Beldringe beauftragt war. Nach meinen Informationen hat die deutsche Wehrmacht diesen großen Lufthafen errichtet.

Durch den deutschen Konsul in Odense bekam ich einen Einsatz als Schwesternhelferin im Flüchtlingskrankenhaus >Windsor>. Dazu hatte ich mich gemeldet. Aber zunächst mal habe ich eine ganz schwierige Zeit in Allesö durchgemacht. Ich würde sagen, das war schon eine tiefe Depression, nachdem wir nun zur Ruhe gekommen waren. Mir ging es gar nicht gut: ich war sehr abgekapselt, und im Grunde hat mich nur eine Idee beherrscht: zurückzufahren nach Ostpreußen. Es war ja Frühjahr geworden, und Sehnsucht und Heimweh nach Hause beherrschten unser Dasein. Außerdem war es ein tatenloses Leben, und ich debattierte mit meinen Eltern immer wieder über meine Rückkehr nach Ostpreußen. Aber dann kam - und ich glaube, das war ein großes Glück für mich - dieser Einsatz im Flüchtlingskrankenhaus >Windsor< in Odense.

Das Hilfskrankenhaus, in einem Hotel untergebracht, war in eine Erwachsenen- und Kinderstation unterteilt. Ich wurde zunächst in der Kinderabteilung eingesetzt, und dann gab es einen Nebenbau eine Infektions-Station. Wir haben versucht mit unsren Möglichkeiten, die nicht sehr groß waren, - wir hatten kaum Medikamente und Wäsche, die Patienten zu versorgen, zu pflegen und ihnen zu helfen.

Auf der Kinderstation waren mindestens 5 oder 6 ausgebildete Schwestern. Ich glaube fast, daß ich die einzige Schwesternhelferin war. Auf der Kinderstation gab es auch Kinderärzte.

Die Kinder kamen alle in dieser Zeit in einem sehr schlechten körperlichen Zustand zu uns. Sie hatten wie wir alle die Strapazen hinter sich. Es wurden Säuglinge eingewiesen, die noch kaum Milch bekommen hatten und in schlechtem Allgemeinzustand waren. Die meisten Kinder kamen mit Ernährungsstörungen oder Infektionskrankheiten zu uns. Diese waren für die belasteten kleinen Kinderkörper eine große Anstrengung, und wir konnten in den ersten Monaten nur ganz wenig Kinder retten. Die meisten starben uns!

Ich erinnere mich an die Kapitulation. Nun konnten die deutsche Wehrmacht und das deutsche Konsulat nicht mehr für uns sorgen. Diese Zeit war wie ein Vakuum für uns alle. Das war ja auch für Dänemark nicht unproblematisch, und wir mußten wieder improvisieren. Schwierige Zeiten für uns alle begannen und besonders für die Verantwortlichen im Hilfskrankenhaus. So erinnere ich mich, daß die Oberschwester sich das Leben genommen hat. Man muß sich vorstellen: Es gab weder Medikamente noch Lebensmittel, und was besonders schlimm war: ein Krankenhaus ohne Wäsche!

Von der Kapitulation haben wir am 5. Mai gehört. Wahrscheinlich von Patienten, die ambulant ins Hilfskrankenhaus kamen, oder von dänischen Nachbarn. Wir waren ja wie abgeschnitten.

In dem Hilfskrankenhaus >Windsor< bin ich an einem schwarzen Scharlach erkrankt und lag mit anderen kranken Frauen auf der Infektions-Abteilung. Wir hatten dort so beengte Verhältnisse, daß wir nicht jede Infektionskrankheit absondern konnten. Ich erinnere mich, daß ich da mit einer typhuskranken Frau und mit Frauen mit anderen Infektionskrankheiten zusammen war.

Viele von unseren Kranken haben nicht überlebt, und Flüchtlinge in den Lagern haben es nicht mehr Flüchtlingskrankenhaus, sondern >Leichenhaus Windsor< genannt. Sie wollten sich darum nicht mehr ins Krankenhaus einweisen lassen. Wir betreuten Kinder mit allen Infektionskrankheiten, unter anderem schwere Scharlacherkrankungen.

Ein scharlachkrankes Kind ist auf meinem Arm gestorben. Ich war alleine auf der Station. Es war in der Mittagszeit, und die anderen Schwestern machten Pause. Das Kind war in einem bedrohlichen Zustand. Ich habe es auf den Arm genommen, weil ich dachte, es hatte Atemnot. Es war uns ganz streng verboten, die infektionskranken Kinder zu uns zu nehmen. Aber ich wollte diesem Kind helfen und habe mich eine Weile - wahrscheinlich viel zu lange - mit dem Kind befaßt, aber ich wollte es nicht zurück ins Bettchen legen, und so ist es in meinen Armen gestorben. Das war vor meiner Scharlacherkrankung, und wahrscheinlich bin ich von diesem Kind angesteckt worden. Das waren schlimme Zeiten für uns auf der Kinderstation, so tagtäglich zusehen zu müssen, wie diese Kleinen starben.

Seitdem wir unterwegs waren, wurde ich fast jeden Tag mit dem Tod konfrontiert. Meine Mutter hatte immer gesagt: > Ihr seht den Tod früh genug!< Ich hatte in meinem früheren Leben fast keine Erfahrung mit dem Tod. Welch schwerwiegenden Eindrücke, seit wir unterwegs waren - die vielen toten Menschen, die ich gesehen und erlebt habe, besonders hautnah in der Klinik.

Für die Kinder konnten wir oft nicht genug tun. Wir hatten nicht genügend Medikamente; die Ernährung war nicht in Ordnung; wir hatten kaum Wäsche. Wir mußten immer kurz entschlossen mit unzulänglichen Mitteln arbeiten.

Ein Kinderarzt entschied: >Wir müssen versuchen trotzdem zu helfen. Es gibt da eine Möglichkeit: Wir müssen Blut für die Kinder spenden<. - Aber wir hatten kein Labor, um Blutgruppen zu bestimmen, dennoch bekamen die Kinder, vor allem die Säuglinge, Blut, das wir Schwestern spendeten. Es mußte alles schnell gehen. Spritzen hatten wir natürlich, aber auch nicht genügend, wir mußten laufend sterilisieren. Uns wurde das Blut abgenommen und den kranken Kindern intramuskulär injiziert. Die Kinderkörper haben das Blut fast immer gut aufgenommen. Das war das einzige, was wir eigentlich intensiv tun konnten.

Wir bekamen für das Blutspenden Käse und Milch, damit wir unsere Blutreserven wieder auffrischen konnten, die Verpflegung war so ausreichend für uns in der Klinik, daß ich diese Zusatznahrung immer meinen Eltern schicken oder bringen konnte nach Allesö.

Unser Krankenhaus sollte dann wieder Hotel werden. Die dänisch Verwaltung - es war >Statens civile Luftvaern<, die damals für uns gesorgt hat - hat dann in dem alten Krankenhaus in Albanigade für uns Räume freigemacht. So sind wir umgezogen und haben dort einige Monate weitergearbeitet. Das ganze Krankenhaus wurde verlegt, und ich war immer noch auf der Kinderstation tätig.

Im Sommer 45 mußte das Hilfskrankenhaus erneut umziehen - in die Korslökke Skole.

Wir Schwestern waren hier alle in einem Klassenraum untergebracht. Da haben wir gewohnt. Es gab nur unsere Betten und eine Bank mit einigen Waschschüsseln - das alles in einem Raum: essen, schlafen, wohnen. Das gleiche galt auch für unsere Patienten, die in den großen Klassenräumen untergebracht waren. Die Schule war groß, und wir hatten hier mehr Platz.

Zirka 8 Monate später wurde das Flüchtlingslazarett nach Beldrige verlegt. Es war in einem Bauernhof eingerichtet und recht gut organisiert, und wir haben da ordentlich arbeiten können.

Es gab ein Verwaltungshaus und ein paar größere Gebäude, in denen die Patienten untergebracht waren. Wir Schwestern haben gute Personalräume gehabt. In einem kleineren Haus habe ich mit vier anderen Schwestern und einem Arzt gewohnt. Außerdem war es sehr schön, daß wir auf dem Lande waren. Wir hatten einige Kinderwagen gespendet bekommen und konnten die kranken Kinder in die frische Luft stellen. Inzwischen kamen die Kinder auch nicht mehr in so schlechtem Zustand zu uns, und wir konnten viele gesund entlassen.

Als arbeitendes Rotes-Kreuz-Personal bekamen wir Passierscheine und konnten uns stundenweise frei bewegen und das Krankenhaus verlassen. Aber wir hatten Bedingungen, die erfüllt sein mußten: Wir hatten kein Kaufrecht, und wir durften nicht Lokale und Kinos besuchen. Wir konnten eigentlich nur spazieren gehen.

Unser Ziel war immer der Hafen in Odense, weil wir hofften, durch die Hafenverbindungen nach Deutschland zu kommen. Der Hafenmeister war sehr freundlich und mochte uns, und auch die Matrosen und andere Leute, die im Hafen gearbeitet haben, waren uns gegenüber wohlwollender als andere, wenn wir z.B. trotz des Verbotes doch versucht haben etwas einzukaufen. Fraternisieren war verboten, und wir vielen auf mit unserer Winterkleidung. Man sah es uns an, daß wir deutsche Flüchtlinge waren. Wenn wir dann den Hafenarbeitern begegneten, sprachen die irgendein deutsches Wort zu uns oder schenkten uns etwas. Ich war meistens mit der Gertrud unterwegs, und wir sind gerne im Hafen gewesen.

Auch hielten wir Kontakt mit dem Hafenmeister, indem wir immer an seinem Häuschen vorbeigingen. Er sagte uns dann, wo ein Schiff liegt, das nach Deutschland fährt. Danach versuchten wir mit den Matrosen ins Gespräch zu kommen, und es gelang immer.

Ende Oktober 45 war ein Schiff da, das am Abend oder in der Nacht nach Hamburg fuhr mit Kaffeeersatz. Diese Matrosen haben wir gefragt, ob sie wirklich nach Hamburg fahren würden. Da haben sie>ja< gesagt, haben sich erkundigt, wer wir sind und was wir machen, und wir haben über unser großes Heimweh gesprochen. Dann haben sie gesagt: >Ihr könnt ruhig mit uns kommen. Wir fahren heute nacht ab. Wir haben Kaffeeersatz geladen nach Hamburg. Wir haben noch ein paar leere Papiertüten. Während der Kontrolle müßt ihr in einen solchen Papiersack schlüpfen. Das ist gar kein großes Problem. Bleibt doch gleich da.

Wir laden euch zum Kaffee ein. Kommt gleich aufs Schiff<. - Wir haben gesagt: >Das können wir nicht. Wir müssen noch einmal ins Krankenhaus zurück, und wir haben auch Angehörige<. - Gertrud hatte ihre Schwester, die die Leiterin eines Kinderheims für elternlose Flüchtlingskinder in Ollerup war, und ich hatte ja meine Eltern und meine Schwester in Allesö, und so ohne weiteres konnten wir uns nicht entfernen.
Dann sind wir im Eiltempo in die Korslökke Skole zurückgelaufen, haben uns entschlossen, daß wir bei unseren Angehörigen bleiben würden. Wir haben uns aber überlegt, wir müßten versuchen, bevor der Passierschein abgelaufen ist, Post nach Deutschland mitzugeben. Dann haben wir alles mobilisiert und Informationen durch das Krankenhaus gegeben:

>Schreibt, schreibt, schreibt! Wir haben die Möglichkeit, Post nach Deutschland zu schicken<.
Denn wir hatten ja ein absolutes Schreibverbot und bekamen ja auch keine Post. Danach sind wir mit viel, viel Post von Patienten und Schwestern wieder aus dem Haus gegangen und dann schnell in den Hafen gelaufen, um den Matrosen zu sagen, daß wir nicht mitfahren würden. Wir haben sie gebeten, die Post aufzugeben. wir hatten Geld mit und wollten es ihnen dafür geben. Sie haben aber das Geld nicht genommen, sondern uns gesagt, wir sollten es behalten, da wir es noch nötig brachen würden. Sie versprachen, die Post zu befördern, und der Brief, den ich da an meine Schwester geschrieben habe, war die erste Nachricht, die sie von mir bekommen hat.

Zunächst wußte ich gar nichts von meinen Geschwistern. Wir hatten die Feldpostnummern meiner Brüder und haben versucht zu schreiben, das war am Anfang nach der Kapitulation äußerst schwierig. Später wurde es dann organisiert, und zwar sehr gut, von den Dänen. Wir hatten Beschränkungen nach Deutschland zu schreiben, es gab aber für uns keine Beschränkungen für Briefe in die russische und in die englische Kriegsgefangenschaft, wo der Mann meiner Schwester war. Wir konnten wirklich viel schreiben, und das war eine große Hilfe für uns - und auch für die Gefangenen.

Ich habe während meines Aufenthaltes auf Fünen einige Dänen kennengelernt und gute Kontakte zu der Familie eines Bäckermeisters in Odense gehabt, der mit einer Deutschen verheiratet war. Sie hat uns einige Male eingeladen. Es war für uns auch etwas ganz wohltuendes, in einer häuslichen Atmosphäre ein paar Stunden zu verbringen. Diese Frau hat uns immer gesagt, wir sollen unbedingt im Treppenhaus dänisch sprechen und nicht laut deutsch sprechen, denn sie würde sehr viel riskieren mit einer solchen Verbindung mit uns.

Meine Eltern, meine Schwester Ilse und deren zwei Söhne wohnten im Lager Allesö, Ich bekam vom Krankenhaus Passierscheine, um meine Eltern zu besuchen. Selbst meine Kollegin Gertrud hat manchmal bei meinen Eltern sein können. Im Juli 46, als ich nach einigen Wochen Nachtwache einige freie Tage bekam, durfte ich zusammen mit ihr nach Ollerup bei Svendborg fahren und diese Freizeit im Flüchtlingskinderheim Ollerup verbringen.

Gertruds Schwester war die Leiterin dieses Kinderheims. Noch heute habe ich diese Tage wie einen schönen Urlaub in Erinnerung.

Es gab im Dorf Allesö zwei Gemeinschaftshäuser mit Großküchen, in denen für die Flüchtlingen gekocht wurde, und da mußte das Essen geholt werden, die Mittagsmahlzeit im Kochgeschirr. Die Kaltverpflegung wurde wöchentlich ausgegeben. Da bekamen wir Brot und Wurst, Margarine, Zucker und Milch.

Meine Eltern haben im Haus 154 gewohnt und hatten hier einen Raum für sich (Zimmer 2). Als ich später nach Allesö kam, bekam ich ein Stück vom Flur. Meine Schwester hat in einem anderen Haus auf dem Dachboden gewohnt. Sie hatte mit ihren Kindern zusammen ein Zimmer, mit zwei Fenstern.

In dem Haus 154 waren einige Familien untergebracht. Familien hatten meist einen eigenen Raum, und wenn es alleinstehende Frauen waren, waren mehrere in einem Raum. Wir waren schon eine große Anzahl von Menschen in dem nicht sehr großen Haus 154, aber das ging gut. Es war persönlicher als in einem Barackenlager. Wir konnten unsere Räume wohnlich gestalten und hatten einen schönen Ausblick aus unserem Fenster.

Von den deutschen Soldaten bekamen wir Bettwäsche. Daraus konnten wir zum Beispiel Sommerkleidung nähen. Auch erhielten wir von den Fallschirmen etwas Seide für eine Bluse. Wir haben alte Sachen aufgetrennt und daraus wieder etwas Neues gestrickt oder genäht. Wir wußten uns da zu helfen und waren sehr geschickt in der Verwertung gebrauchter Textilien.

In den Briefen an meine Schwester hat meine Mutter das Lagerleben geschildert. Es war Mutter wichtig, ihrer Tochter in Deutschland mitzuteilen, wie es und ging. Meine Schwester hat uns dann wieder von ihrem Leben geschrieben. Diese Briefe sind heute noch vorhanden. Ich habe sie nachgelesen und finde es gut, sich wieder mit dieser Zeit zu beschäftigen.

Um ein authentisches Bild vom Lagerleben zu geben, werden im Folgenden Auszüge aus den 33 Briefen meiner Mutter an meine Schwester Charlotte gebracht. es sind Briefe aus der Zeit von Februar 1946 bis zum Februar 1947, als das Lager aufgelöst wurde.

Auszüge aus 33 Briefen meiner Mutter an meine Schwester Charlotte, die als Einzige von uns 5 Geschwistern in Deutschland lebte

10.02.46
Vor 8 Tagen habe ich dir einen Brief geschrieben und versuche nun wieder, Dir Nachricht zu geben. wer weiß, ob Du die Post erhalten wirst. Wir nehmen jede Gelegenheit wahr, Briefe nach Deutschland mitzugeben. Dies wird immer seltener. Leider sind die Postverbindungen zu uns noch nicht frei geworden, obwohl wir es uns sehnsüchtig wünschen.

Seit Anfang Dezember, als die letzten deutschen Soldaten von Beldringe abgezogen sind, haben wir nicht mehr ihre Hilfe. Sie haben uns sehr unterstützt, besonders mit Kleidung geholfen, so gut sie konnten, mit Wehrmachtsbettwäsche und Decken, für Vater sogar einen Pullover und etwas Fallschirmseide für Blusen. Du siehst, es geht weiter; wir helfen uns weiter, und es wird uns geholfen.

Weihnachten gab es im Lager sogar eine Bescherung, jedes Kind bekam ein Spielzeug, einen Apfel und eine Apfelsine. Wer weiß, wie ihr Lieben dieses Fest erlebt habt!

Vater ist jetzt seit 8 Tagen in der Lagerküche, in der für über 500 Flüchtlinge gekocht wird, als Heizer beschäftigt, von 6 Uhr morgens bis nachmittags. Abendessen können wir uns selbst machen. Für 8 Tage Kaltverpflegung bekommen wir pro Person: 1 Weißbrot, 2 Graubrote 140g Butter, 200g Wurst, 110g Käse, 1 Esslöffel Quark und 100g Zucker. Die Mittagessen sind immer ausreichende und schmackhafte Eintopfgerichte. Am Sonntag gab es Gulasch, Sonnabend Erbsensuppe.

An Dora erste Schneeglöckchen geschickt.

5.4.46
Schreiben nach Deutschland ist jetzt ab 6.4. erlaubt. Zunächst darf jeder monatlich einen Brief abschicken. Dora hat es im Flüchtlings-Krankenhaus Beldringe ca. 2 km von Allesö entfernt sehr schwer. Ich hoffe, Dir zum Geburtstag wieder Schreiben zu können.

22.4.46
Deinen ersten Brief haben wir mit großer Freude erhalten. Jetzt dürfen auch längere Briefe geschrieben werden. An Kriegsgefangene können wir unbeschränkt schreiben.

Wir haben ein nettes Stübchen mit 2 Betten, einem runden Tisch, 3 Stühlen, 1 Schrank. 2 Fenster mit Gardinen, auf dem Fensterbrett Geranien. Den Blick hinaus zum Garten, wir haben Blumen und Gemüse gesät.

Dieses Dorf gehörte früher zum Fliegerhorst. Es gibt auch Baracken, aber wir haben das Glück, in einem massiven Haus zu wohnen. Wir können innerhalb des Dorfes spazieren gehen, auch mal zu Dora nach Beldringe per Auto fahren.
Sei also ohne Sorge um uns. Vater wiegt 160 Pfund, fühlt sich gesund, ist Heizer im Duschraum. Er liest viel, kann sich Bücher aus der Bibliothek ausleihen. Am Vormittag waren wir zur Kirche gegangen. Ilse hat Bedenken und Angst mit den Kindern nach Deutschland zu kommen.

13.5.46
Mein liebes Kind, mache Dir nicht zuviel Sorgen um uns. Denke Dir, wir wohnen in dem Dorf in einem massiven Haus mit Garten davor, können zur Kirche gehen und uns innerhalb des Dorfes frei bewegen. Das Dorf ist mit einem Stacheldrahtzaun eingegrenzt. Vati ist jetzt Bademeister in einem Duschraum. Dorthin können die Flüchtlinge alle 4 Wochen zum Duschen gehen. Die Einteilung ist häuserweise geregelt.


24.5.46
Es wird viel für uns getan. Ilse bekommt für jedes Kind täglich 1/2 Liter Milch. Mit dem bißchen Wäsche und nur einem Sommerkleid ist das Leben nicht ganz unproblematisch. Wir besaßen ja nur unsere Winterbekleidung, die wir auf der Flucht trugen. Wir haben nun jeder ein Sommerkleid aus blaukarierter Wehrmachtsbettwäsche genäht und auch eine weiße leichte Bluse. So haben wir uns über den ersten Sommer geholfen. Schwierig ist im Augenblick Nähgarn zu beschaffen.

Flüchtlinge dürfen hier kein deutsches Geld haben.


9.6.46
es wird erzählt, daß die Grenzen nach Deutschland gesperrt sind, selbst für Personen, die schon Einreisegenehmigungen hatten.
Wir haben genug zu essen, sind zufrieden damit und können es jetzt mit frischem Salat aus dem Garten weiter verbessern.
Fotos in Briefe beizulegen ist verboten.


14.6.46
Unser Garten macht uns viel Freude, und Vater hat außer seiner Arbeit im Duschraum auch eine Beschäftigung im Freien.
Dora hat wieder Blut gespendet und kann uns den zusatz an Verpflegung wie Butter, Käse und Milch schicken.
27.6.46
Es geht das Gerücht, daß Rußland uns Flüchtlinge aufnehmen will. Wir leben in der Hoffnung, daß es nach der Ernte ein Ende der Internierung gibt. Es wird soviel darüber gesprochen.
Im Garten gibt es schon Möhren.


7.7.46
Wir können doch immer nur 2 Briefe im Monat abschicken.

(57)
20.8.46
Ich war einige Wochen im Krankenhaus Beldringe. Vater konnte mich jeden Sonntag besuchen und manchmal auch Ilse mit den Kindern. Von dort aus war ich im dänischen Krankenhaus Odense zu 5 Röntgentiefstrahlungen für die Schilddrüse. Ich habe 12 Pfund zugenommen und bin nun wieder in Allensö.
Am Sonntag soll ein großes Sommerfest im Lager stattfinden. Aus Beldringe werden wir wohl viel Besuch bekommen. Hier in unserem Dorf sind wir ca. 1500 Personen.

Eine schöne Gurkenernte in unserem Garten. Das Obst von den Bäumen wird an alle im Häuserblock verteilt.
Wir warten auf die Heimkehr nach Deutschland.


26.8.46
Gestern war hier das große Sommerfest von morgens um 7 bis abends um 23 Uhr. Es war vor allem ein Fest für Kinder, mit Buden, Spiel und Sport. Auch gab es Preise. Guido und Hagen hatten großen Spaß beim Eierlaufen und Sackhüpfen. Damit verbunden war eine Ausstellung, in der gezeigt wurde, was wir Flüchtlinge alles gebastelt haben. Es war herrlich anzusehen, was wir aus Säcken und Schnüren alles machen können. Unsere Gastgeber staunten. Ich hatte meine Jacke, aus einem Schlafsack genäht, und ein Hemd, aus Schnüren gestrickt, zur Ausstellung gegeben.


8.9.46
Das Getreide steht noch, wir können es vom Fenster aus hinter dem Stacheldraht sehen. Vater hat diesen Sommer Tabak im Garten gebaut.


27.9.46
Von Gerhardt, der vermutlich in russischer Gefangenschaft ist, haben wir immer noch keine Nachricht. Wir konnten ohne eine Anschrift zu wissen, eine Karte an ihn mit 25 Worten nach Moskau schicken.
In Deutschland habt ihr also gewählt.

Vater bekam heute eine Mitteilung vom Geschäftszimmer des Lagers, daß er eine verbesserte Schwerarbeiter-Zulage ab morgen bekommt: Zusätzlich 200g Wurst, 100g Käse, 50g Margarine und 2 X 1 Liter Milch wöchentlich.
Dora ist nun auch im Lager und von der Arbeit im Krankenhaus freigestellt.

3.10.46
Erste Anmeldung und ein Anfang zur Ausreise. Wir haben im Geschäftszimmer des Lagers als Ziel Deutschland angegeben und mit Schriftstück belegt, daß wir aufgenommen werden.

8.10.46
Es heißt, das vorläufig nur die Flüchtlinge nach Deutschland ausreisen dürfen, die im Westen beheimatet sind und dort ihre Ernährer haben, außerdem eine Zuzugsgenehmigung.

20.10.46
Nur die Heimreise ist noch wichtig. der erste Transport soll im November abgehen.

30.10.46
Wann können wir nun endlich nach Deutschland reisen?

3.11.46
Laienkräfte des Lagers spielten heute das Lustspiel >Minna von Barnhelm< von Lessing. Es war für die Spieler ein großer Erfolg und eine Freude für uns.

20.11.46
In der Nacht vom 19. bis 20.11. ging der erste Transport von Beldringe in die Provinz Hannover ab. Am letzten Tag wurde für die abfahrenden Flüchtlinge eine Abschiedsfeier sehr feierlich gestaltet.

28.11.46
Am 27.11. Wahl im Lager: Wir haben einen neuen Lagerleiter gewählt.

20.12.46
Es gab eine Weihnachtszulage zum Backen: 80g Mehl, 80g Zucker, 40g Margarine, 250g Sirup.

26.12.46
Am heiligen Abend gab es zusätzlich zur Kaltverpflegung 200 g Äpfel, eine große Portion Vanille-Eis und Pudding mit Saft. Das waren erfreuliche Überraschungen. Vater hat bis gegen 16 Uhr im Duschraum gearbeitet. Um 16 Uhr war dann die Bescherung. Der Weihnachtsmann hat seine Gaben selbst an die 500 Kinder verteilt. Jedes Kind bekam ein selbstgebasteltes Spielzeug, sehr hübsche Sachen waren darunter. Guido bekam ein Auto aus Holz, Hagen einen langen Zug. In der Familie haben wir uns mit kleinen Handarbeiten Überraschungen bereitet. Ilse war mit den beiden Jungen bei uns. Vater hat den Enkelsöhnen Schlittschuhe aus Holz gearbeitet. Dora hat unsere Stube mit Tannengrün geschmückt. Vor dem Haus der Geschäftsstelle des Lagers war ein schöner großer Weihnachtsbaum mit elektrischer Kerzenbeleuchtung aufgestellt, den wir uns nach dem Weihnachtsgottesdienst um 20 Uhr noch angesehen haben. Ich war dann von den Erinnerungen an frühere Weihnachtstage erschüttert und müde.

1.1.47
Wir gehen mit bangen Sorgen in das neue Jahr. Was wird es uns bringen? Hoffentlich kommen wir einen Schritt näher zum Ziel, uns ein neues Zuhause zu gründen.
Nach dem Tauwetter ist es wieder kalt geworden, da sitzt man am liebsten am warmen Ofen, Vati liest, und ich stricke an Deinem Weihnachtspullover. Hoffentlich gefällt er Dir?


20.1.47
Odense, dänisches Krankenhaus.

Ich muß fest zu Bett liegen, bekomme ein herrliches Essen, alles ist sehr schmackhaft und appetitlich hergerichtet: Obstsuppen, immer Fleisch, viel Milch, nur Weißbrot und Pudding. Ich soll mich tüchtig erholen. Ich bekomme viele Tabletten, täglich eine Spritze. In den ersten Tagen habe ich schon 4 Pfund zugenommen, das Herz sei auch etwas besser geworden. Hier sind alle sehr gut zu mir. Ich bin mit einem Fräulein im 2-Bett-Zimmer untergebracht. Wir können uns ganz gut verständigen, sonst sprechen die alle dänisch mit mir. Ich muß das wohl auf meine alten Tage lernen, nur geht das schlecht. Ich weiß nicht, wie lange ich hier bleibe.


28.1.47
Hier im dänischen Krankenhaus habe ich nun meinen 57. Geburtstag verleben müssen, doch mache Dir keine Sogen, denn ich habe es hier wirklich sehr gut. Leider sprechen aber alle nur dänisch.

Nun will ich Dir von meinem Geburtstag erzählen. Um 7 Uhr morgens sangen die Schwesternfür mich im Flur vor meinem Zimmer >Lobet den Herrn<, natürlich auf dänisch.

So gegen 11 Uhr tat sich die Tür auf, und Vati und Dora kamen mich besuchen. Das war das schönste Geschenk. Sie konnten von Allensö mit einem Auto fahren. Sie brachten mir viele Geburtstagsbriefe mit, einen selbstgebackenen Kuchen und einen Strauß Birkenruten mit Kätzchen. Der Arzt sagte, es gehe besser, und ich hoffe, bald wieder bei Vati und Dora zu sein.

20.2.47
Bis 22.2. bleibe ich im dänischen Krankenhaus, in dem ich in 6 Wochen bis gestern über 6,5 kg zugenommen habe. Auch bin ich ruhiger geworden, und es geht mir ganz gut.

Den 11. Februar 1947, hier im Krankenhaus, werde ich nie vergessen - es war der Tag, an dem ich die erste Nachricht von Gerhard, meinem Jüngsten, aus russischer Gefangenschaft bekam.

Ich finde es überhaupt gut, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Vieles kann aufgearbeitet werden, und ich weiß, daß das gut ist und mir hilft. Nicht alle haben diese Einstellung. Zum Beispiel meine älteste Schwester - die lehnt es ab, mit mir überhaupt noch intensiv über diese Zeit zu sprechen, die sie nur in schlechter Erinnerung hat.

Wie aus den Briefen hervorgeht, war Allesö ein >geschlossenes Land<. Das Dorf war mit Stacheldraht umzäunt. Trotzdem ging ich dorthin zurück, weil ich nicht repatriiert werden konnte - das heißt nach Deutschland zurückgeführt werden, so lange ich im Flüchtlingskrankenhaus angestellt war. Wir wollten alle zurück nach Deutschland zurück! Unser Heimweh war groß, es war ja ein eingeschränktes Leben. Da es mit den Rückführtransporten anfing, haben wir alles in Bewegung gesetzt, um die notwendigen Papiere zu er halten, um nach Deutschland zu kommen.

Ich habe meine Freistellung von der Arbeit im Krankenhaus beantragt und zwar mit dem Hinweis auf die Familienzusammenführung. Wir waren ja eine Familie, die sehr auseinandergerissen war. Charlotte lebte als einzige in Deutschland; die übrigen Familienmitglieder waren in vier verschiedenen Ländern in fremden Gewahrsam. Schwester Charlotte war ganz alleine und sehnte sich nach der Familie.

Deshalb haben wir uns immer wieder um eine Rückführung bemüht, aber erst mußte ich das Papier haben, daß ich nicht mehr im Arbeitsprozeß war. Ich habe es dann auch bekommen.

Als ich von der Arbeit freigestellt war, wurde ich am 16. September 1946 wieder ins Lager Allesö eingegliedert, und man hatte es möglich gemacht, daß ich bei meinen Eltern einen kleinen Raum extra allein für mich bekam.

Ich hatte da sogar eine Kiste, die mir in Allesö geschreinert wurde - vielleicht hat mein Vater das gemacht - und in dieser Kiste hatte ich meine gesamte Habe. Auf die Kiste habe ich dann ein selbstgemachtes Deckchen gelegt. Dann hatte ich mein Bett.

Das habe ich am Tag zugedeckt und als Sofa benutzt. Ich hatte auch eine weiße Gardine vor dem Fenster. Im Herbst hatte ich einen Teller mit Obst auf die Kiste gestellt. Das war nun mein Reich.

Inzwischen hatten wir das Notwendigste anzuziehen, und bemühten uns, die Stube ein bißchen wohnlicher zu machen. Mit den wenigen Möglichkeiten haben wir das auch ganz gut fertig gebracht. So war das Zimmer meiner Eltern ein Raum geworden, der uns ein Stückchen Zuhause vermittelt hat.
Es gab auch Kindergarten und Schule, und Neffe Guido kann sich genau erinnern, daß er da zur Schule gegangen ist. Es gab ja auch Lehrer unter den Flüchtlingen.

Das Lager bekam vom >Statens civile Luftvärn> Lebensmittel-Zuteilungen entsprechend der Personenzahl. Das wurde angeliefert und in diesen beiden Großküchen gekocht. Es war ausreichend und ordentlich. Wir konnten uns im kleinen Garten ein bißchen Gemüse anbauen, Salat und Mohrrüben, denn wir bekamen den Samen dazu. Damit konnten wir unsere Lagerkost ergänzen und vervollständigen. Das Beste, das ich in dieser Zeit bekam, war das Weißbrot, geröstet, mit Margarine bestrichen und etwas Zucker bestreut. Das war Kuchenersatz. Nach Süßem waren wir sehr ausgehungert.

Man organisierte Veranstaltungen, um die Menschen aus ihrer Untätigkeit zu holen. So gab es Büchereien, Singstunden, es wurde gehandwerkelt, zum Beispiel hat man Schuhe aus Holz gemacht. Eine solche Schuhminiatur habe ich heute noch. Es wurden Lagerfeste organisiert. Es gab außerdem die Kirchenfeste. Frauen und Männer und auch Kinder konnten in die Kirche. In dem großen Küchenraum wurden auch Gottesdienste abgehalten.

Von der Zukunft hatten wir keine konkrete Vorstellung. Wir waren in einem Zustand, in dem wir schlecht Pläne machen konnten. Fragen wurden gestellt: Wie wird es weitergehen? Wovon sollen wir leben? Wo sollen wir hin? Psychische Probleme kamen hinzu. Die Menschen trauerten um die verlorene Heimat, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung machten sich breit. Das Nichtstun und die Isolation hinter Stacheldraht waren für uns unnatürlich.

Die Menschen im Lager brauchten Beschäftigung. So erinnere ich mich zum Beispiel: Eine Frau war an Typhus gestorben, und ihre Matratze sollte verbrannt werden. Wir hatten gelernt, aus nichts etwas zu machen, beziehungsweise nichts wegzuwerfen, und mindestens zwei von uns fanden, da könnte man doch etwas daraus machen. Also haben wir gegen die Vorschrift die Matratze aufgetrennt, den Inhalt verbrannt, den Bezug sehr lange desinfiziert, gewaschen und getrocknet. Das Gewebe machten wir zu Garn und für uns daraus Pullover.

Weihnachten versuchten wir zu feiern, wie wir es zu Hause gewöhnt waren. Wir haben uns um Tannenäste bemüht, Stroh hatten wir in den Strohsäcken unserer Betten, und daraus machten wir Strohsterne, was nicht einfach war. Klebematerial gab es nicht, und Nähfaden war viel zu kostbar. Dann haben wir uns in der Natur umgesehen, ob wir nicht hier etwas Brauchbares finden konnten. Jemand kam auf die Idee, daß man dazu Hollundermark nehmen könnte; das sei ein sehr schönes Material. So haben wir aus getrockneten Hollunderästen das Mark herausgelöst und in kleine Scheiben geschnitten, in die wir feingeschliffenes Stroh sternförmig hineinsteckten. Dies wurden sehr schöne filigrane Weihnachtssterne. - Diesen Weihnachtsschmuck mache ich noch heute, weil ich finde, daß dies die schönsten Strohsterne sind. Wir arbeiteten überhaupt viel mit Stroh.

Im Lager wurde auch alles Mögliche angebaut. Eines Tages hat Vater Tabak gesät. Als der Tabak erntereif und getrocknet war, hat Vater gesagt: > Jetzt wollen wir den fermentieren<. Das mußte mit Zucker gemacht werden, den wir von unserer kostbaren Zuckerration abzweigten. Er hatte eine alte Gasmaskenhülle aus Blech. Da kam der Tabak mit dem Zucker hinein und wurde in einem Waschkessel unter Dampf gesetzt und dann wieder getrocknet. Dann wurde der Tabak geschnitten. Jetzt brauchten wir Zigarettenpapier dafür. Das hatten wir nicht, aber wir bekamen eine Zeitlang pro Kopf monatlich 30 Blatt dünnes Toilettenpapier, und das wurde dann als Zigarettenpapier abgezweigt. Diese Zigaretten nannten wir >Klosettis<!

Die einzige Skizze vom Lager Allesö, mit den wichtigsten Straßennamen, wie wir sie auf deutsch benannt haben, wurde von mir gemacht. Wie es dazu kam, erinnere ich mich nicht, aber ich muß dafür sehr viel Zeit verwendet haben! Ich habe diese Karte gerettet. Das Lagertor hieß >Tor der Freiheit<. So war es überall. Es gab auch ein Gefängnis, und das hat der dänische Lagerleiter > die kleine Hotel< genannt. Er hat wohl das Deutsche nicht so gut beherrscht.

Aber meine Sehnsucht nach Ostpreußen blieb, - ich wollte unbedingt nach Hause. Meine Eltern haben nicht sehr viel darüber gesprochen. Mein Vater ist immer schweigsamer geworden. Es kamen spärliche Informationen über die Grenzveränderungen der Sowjetunion und Polen. Die Menschen aus diesen früheren deutschen Gebieten wurden ausgewiesen, aber trotzdem hofften wir, wieder nach Hause zu kommen.

Lange Zeit wußte ich von meinem jüngsten Bruder gar nichts. Von meinem ältesten Bruder, der in englischer Kriegsgefangenschaft war, haben wir relativ schnell Nachricht bekommen und haben mit ihm korrespondieren können. Das war für unsere Mutter eine ganz große Entlastung, daß wir wenigstens wußten, daß es dem Rudi ordentlich ging. Im Februar 1947 kam von meinem jüngsten Bruder aus Sibirien eine erste Karte, und wir waren erleichtert.

Meiner Mutter ging es nicht mehr gut. Sie war in großer Sorge um ihre Söhne in der Kriegsgefangenschaft. Man muß sich das mal vorstellen, wir hatten Heimat, Besitz, Verwandte, Freunde verloren - waren Entwurzelte in einem fremden Land. Als man ihr im Hilfskrankenhaus nicht mehr helfen konnte, kam sie ins dänische Krankenhaus in Odense. Sie war eine von den wenigen, die im dänischen Krankenhaus behandelt wurde. Wir durften Mutter im Krankenhaus besuchen und konnten ihr die Karte von Gerhardt aus Rußland bringen. - Wenn wir einen Passierschein für das Krankenhaus hatten, suchten wir eine Fahrgelegenheit, das war nicht immer einfach. Zunächst fuhr ein Zug nach Allesö, aber später gab es nur Busverbindungen. Die Lieferanten und die Handwerker waren jedoch auch bereit, uns mitzunehmen. So haben wir unsere Mutter mehrmals besuchen können. Es war für sie eine ganz besondere Freude, wenn wir kamen. Ihr ist es im Krankenhaus in Odense gut gegangen. Sie ist dort geheilt und gesund gepflegt worden. Sie war lange fort. Als wir nach Jütland verlegt wurden, blieb Mutter trotzdem im Krankenhaus zur Behandlung. das war sicherlich für sie einlebensrettender Aufenthalt im Krankenhaus.

Am 6. Februar 1947 haben wir Flüchtlinge Allesö verlassen. Wir hatten genügend Zeit, alles in Ruhe zu packen. Es war der kalte Winter 1947, und in dieser Kälte brach eine Grippeepidemie aus. Die Leute waren schwer krank, und zur gleichen Zeit wurde das Lager aufgelöst, das heißt die Versorgung wurde eingestellt. Wir haben in diesem kalten Winter mit Brennmaterial sparen müssen, so war es aber in ganz Dänemark. Als Brennmaterial bekamen wir nur Torf. Die letzten Tage unserer Zeit in Allesö waren besonders dramatisch.
Die Gedanken, die ich mir machte, habe ich in einem Brief an Schwester Charlotte geschildert:

Allesö, am 15. Januar 1947

Meine liebe Lotti!

Ach, so viel hab ich Dir heute zu schreiben, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Erstmal hab`ganz herzlichen Dank für deine zwei lieben Briefe. Dein Brief vom 24. Dezember hat uns natürlich sehr gefreut... Dann kam Dein trostloser Brief vom 1. Januar. Jeder, der kein Ziel hat, kann sich in die französische Zone ohne Zuzugsgenehmigung u.s.w. melden. In dem Brief schreibst Du: Vielleicht war es sogar günstig, in die französische Zone zu gehen, dann wäret ihr wenigstens in Deutschland. Es müssen ja so viele Menschen da leben, warum sollen wir es nicht können u.s.w. Kannst Du dir vorstellen, wie es in mir aussah? Seit wir von zu Hause fort sind, werden fast immer meine Vorschläge ausgeführt. Denn Papa ist alt geworden, und es ist alles zu neu, zu fremd, zu ungewohnt für ihn, daß er meist gar nichts sagt. Ilse läßt sich auch vollkommen treiben, unternimmt überhaupt nichts und sagt zu gern: Es ist alles Schicksal! das ist ja auch am leichtesten. Ich halte also wiede einmal das Schicksal in der Hand. Ich werde aber keinem von beiden einen Vorwurf machen, nein, ich schreibe Dir nun mal, wie es ist, Lotti, und du erwähnst natürlich nichts davon in Deinen Briefen. Ich habe mir 1000 Fragen gestellt und die Sache von allen Seiten beleuchtet und ging dabei nur im Kreis herum. Es war schrecklich! Dann sagte ich mir: >Wir fahren in die französische Zone!<...

Ich habe Dir heute bestimmt nur das Herz schwer gemacht, doch es mußte alles herunter von der Seele. Sei nicht allzu betrübt, Schwesterchen, es kommen auch mal wieder bessere Zeiten, in denen es leichter wird......

Und nun will ich zuende kommen mit meiner Schreiberei. Kannst Du mein Gekritzele auch immer lesen? Ich will mir immer große Mühe geben und schön schreiben, und immer wird es solch eine Klaue. Heute Nacht fahren wieder 20 Flüchtlinge aus unserem Lager nach Deutschland. Aus unserem Haus eine Familie und eine Dame. Denen muß es sehr schön zu Mute sein. Nun, wir kommen ja auch mal dran.

Nun, Lotti, nicht traurig sein, nein? freue Dich auf unser Wiedersehen und unser Beisammensein. Dir viele, viele herzliebe Grüße

Dein Dörchen
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